Teuthof, den 6. Oktober 1918 Sonntag vormittag

Liebster Fritz !

Eigentlich hatte ich mich zu Abrechnungen und ähnlichen nützlichen Dingen an den Schreibtisch gesetzt, aber da kam die Zeitung und nach deren Lektüre muß ich zur "Abregung" erst meinen Sonntagsbrief an Dich schreiben, zu Abrechnungen bin ich augenblicklich noch zu aufgeregt. Also der neue Reichskanzler hat in der Note vom 5. 10. dem edlen Wilson angeboten, die Einleitungen zur Herbeiführung des Friedens in die Hand zu nehmen. Der erste Schritt der neuen Regierung. Die Ereignisse der letzten Tage haben sich doch direkt überstürzt. Was soll man dazu sagen, was hoffen und was fürchten? Das Gefühl möchte sich so gern an nähergerückten Friedensmöglichkeiten freuen und der Verstand sagt aber was für ein Friede wird das werden! ? Wenn's noch ein "Verständigungsfriede" wird, können wir froh sein. Zu besonders großen Hoffnungen berechtigt doch weder die allgemeine politische noch militärische Lage. Was muß sich das arme Bulgarien gefallen lassen! Und was mag der Umstand zu bedeuten haben, daß man, resp. die Entente, nur den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland und Österreich-Ungarn, nicht aber mit der Türkei verlangt? Soll das heißen, daß man die Türkei nicht mehr für voll ansieht und annimmt, daß sie in absehbarer auch abfallen werden? Und Österreich-Ungarn? Oh weh, wie wackelt's da unten an allen Ecken und Enden! Die Äquinoktialstürme fegen in diesem Jahr alles gut durcheinander !! Heute mittag muß ich mal schleunigst die Drachenhöhle stürmen, und die Rundschau-Nummern der letzten Tage lesen. Was die Rundschau sagt, kann ich mir ja eigentlich auch so denken! Was Adolf Meier* wohl in diesen Tagen gespannt auf seiner Warte sitzt. Erfährst Du nun auch das jeweils Neueste mit möglichster Beschleunigung? Ich muß wahrhaftig, trotzdem ich eigentlich ja keine Zeit dazu habe, diese Abende mal nach Pastors und mir die Meinung vom Pastor anhören. -- Teilweise knüpft man die schwärzesten Befürchtungen an die demokratische Regierung -- Krones haben laut Bericht von Frau Fischer schon ein paar Nächte nicht mehr geschlafen, weil sie den Umsturz alles Bestehenden fürchten. Unserem armen Kaiser ....sagt man nichts Gutes, Ausdrücke wie "Lehmanns können nun bald stiften gehen" und "Wilhelm und Leopold müssen sich nun auch bald nach Arbeit umsehen" sind Aussprüche, wie man sie jetzt draußen aufschnappen kann. Klöpper hat gewiß auch sein Wetter, vorausgesetzt, daß er den Stand der Dinge überhaupt begriffen hat! -- Aus der Wirtschaft gibt’s wohl heute nichts zu berichten, nur Deine Frage nach der neuen Winde muß ich noch dahin beantworten, daß nach Paul's Aussagen alles tadellos funktioniert hat, da er ja immer selbst dabei war. In der Nacht hat's wieder ein bißchen geregnet, heute früh Wind und bedeckter Himmel. -- Du, ich glaube, wenn's tatsächlich zum Frieden kommt, besaufen wir uns doch noch! Was meinst Du?

Herzlichste Grüße auch von den andern

Deine Martha

*Adolf Meier war ein Freund von Fritz, Lehrer in Heidenoldendorf. Er wurde Anfang der 1930er Jahre von einem Schüler, der in ein Erziehungsheim sollte, mit einem Beil erschlagen. (Auskunft von Ursula Finne ghk)

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Version 1.0 Gerhard - Hermann Kuhlmann, November 2005